Lasset die Kinder kommen
Überlegung zum Vers "Das Wesen deines Wortes ist Wahrheit."[1].
Ich lese nun aus dem 18. Kapitel des Evangeliums von Lukas den 16. Vers vor: "Aber Jesus rief sie zu sich und sprach: "Lasset die Kinder zu mir kommen und wehret ihnen nicht, denn solchen gehört das Reich Gottes".
Ihr fragt: "Was für eine Bedeutung haben die Kinder für das Leben?" Die Kinder sind die verbindenden Fäden im Leben. Das Schwache in der Natur ist ein Bindeglied. Wenn die Leute über etwas sagen, es sei unwichtig und tauge nichts, dann sollten sie wissen, dass gerade von diesem schwachen, nebensächlichen Ding ihr Leben abhängt. Es ist das Bindeglied in ihrem Leben. Ohne dieses kann gar nicht an große Dinge gedacht werden. Wenn wir nun über die Kinder reden, fassen viele diesen Vers wörtlich auf. Sie betrachten seine äußere Form. Aber, äußerlich betrachtet, erklärt er die Wahrheit noch nicht. Unter dem Wort "Kinder" versteht Christus den kleinsten Gedanken, das schwächste Gefühl und die geringste Tat, die in der menschlichen Seele keimen. Diese kleinsten Größen scheinen schwach wie die Kinder zu sein, von ihnen kann man nichts erwarten, sie sind bedeutungslos, aber eigentlich sind sie wichtige Bindeglieder im Leben. Also meinte Christus diese kleinen menschlichen Größen, als er sagte: "Lasset die kleinen Kinder in euch zu mir kommen, weil das Reich Gottes ihnen gehört". Und wirklich, ein großer Mensch, der sich seines Verstandes und Herzens bewusst ist, kann nicht ins Reich Gottes eintreten, wenn er sich nicht für die kleinen Größen in seinem Innern interessiert. Zu jenen, die ins Reich Gottes eintreten möchten, sage ich: Verachtet nicht den kleinen Gedanken, die geringe gute Tat, das schwache Liebesgefühl, die in eurer Seele aufkeimen. Viele betrachten das schwache Liebesgefühl mit Geringschätzung und meinen: "Das ist eine Kleinigkeit!" Sie verlassen sich auf die großen, für den Menschen, bedeutsamen Dinge. Fragt einmal ein großes, starkes Pferd, was es erwarb, nachdem es sein ganzes Leben lang große, schwere Lasten getragen hat. Fragt den Großhändler, was er gewann, nachdem er sein ganzes Leben an großen Unternehmen teilgenommen hat. Fragt den eminenten Schriftsteller, was er erreichte, nachdem er sein ganzes Leben großartige Werke geschrieben hat. Alle großen Tiere und alle großen Menschen würden abschließend sagen, wie es Shakespeare einst gesagt hat: "To be or not to be", d.h. "Sein oder nicht sein". Ich würde diesen Satz auf folgende Weise interpretieren: Soll ich ein großes Pferd sein und eine große Last tragen, oder soll ich ein kleines Pferd sein und eine kleine Last tragen? Soll ich ein Großhändler sein und mich mit großen Unternehmungen befassen oder soll ich ein Kleinhändler sein und kleine Geschäfte tätigen? Soll ich ein großer Schriftsteller und Dichter sein und nur grandiöse Werke schaffen, oder soll ich ein kleiner Autor sein und das Geringe, das Unbedeutende im Leben besingen?
Ich sage: Alles hängt von der Anwendung ab. Gewöhnlich beginnt der Mensch mit großen Gedanken und Projekten, aber letztendlich beendet er seine Arbeit mit kleinen Dingen. Es gibt ein Einheitsgesetz, nach dem die kleinen und großen Dinge eng miteinander verbunden sind. In der Schrift wurde gesagt: "Ich bin Alpha und Omega, Anfang und Ende aller Dinge". Die großen Gedanken sind der Anfang, die kleinen – das Ende. Wenn sich die großen Gedanken nicht mit den kleinen verbinden, werden sich erstere nicht verwirklichen. Folglich muss der Mensch seine großen und kleinen Regungen miteinander in Einklang bringen. Weiß er diese zu versöhnen, so kann er beide bei seiner Erziehung nutzen. Manchmal kann eine kleine Regung oder ein kleiner Wunsch eine derart wichtige Verbindung herstellen, dass dadurch der Mensch vor einem großen Unglück gerettet wird.
Was machen die heutigen Menschen? Sie vernachlässigen oft ihre geringen Regungen, Gedanken und Wünsche und erwarten nach all dem Glück, große Erfolge und Leistungen. Eine Jungfrau fantasiert, träumt davon, dass von irgendwoher ein Königssohn auf einem Pferd kommen wird und sie heiratet. Eines Tages entschließt sie sich, von zu Hause wegzulaufen und in den Wald zu gehen in der Hoffnung, ein Königssohn würde kommen um sie zu retten. Doch was passiert dann? Sie geht in den Wald und verfehlt den Weg, doch statt des ersehnten Königssohns kommt ein Schäfersohn auf einem Esel um sie zu retten. Die Jungfrau fragt sich: "Woher ist dieser Schäfersohn gekommen? Ich erwarte einen Königssohn, aber ich wurde betrogen". Dieses junge Mädchen fühlt sich unglücklich, weil sie den tiefen Sinn der Dinge nicht versteht. Aus ihrem Unverständnis heraus deutet sie die Dinge falsch und stößt so auf eine Reihe von Unglücksfällen. Hier verkörpert der Esel den Königssohn, den die Jungfrau erwartet, der Schäfersohn aber ist das kleine, schöne Gefühl, das den Königssohn bestiegen hat. Ihr könnt einen Edelstein in einen Holzkasten tun und ein Linsenkörnchen in einen Goldkasten. Was zieht ihr vor: den Edelstein im Holzkasten oder das Linsenkörnchen im Goldkasten? Natürlich, der Edelstein kostet mehr als der Holzkasten, genauso wie der Goldkasten mehr als das Linsenkörnchen wert ist, aber wenn ihr ein Hungerjahr erlebt, könnt ihr von dem Linsenkörnchen etwas kochen, um euren Hunger zu stillen, während euch das Gold und der Edelstein nicht helfen können. Man kann das Linsenkörnchen säen und es wird nach einigen Monaten Ertrag bringen, der euch vor dem Hunger in einem Hungerjahr retten wird, während niemand den Goldkasten und den Edelstein kaufen will. Aus dem Goldkasten könnt ihr Ringe, Ohrringe und anderen Schmuck machen, aber wer soll ihn kaufen?
In der Natur gibt es ein Gesetz der Einheit, das sich überall im Leben, in den Wissenschaften und Künsten bestätigt. Wenn wir beispielsweise das Wissen betrachten, bemerken wir, dass unter allen seinen Teilen wieder eine Einheit besteht. In diesem Fall ist echtes Wissen etwas, was für den Menschen Schmuck, Hilfe oder Licht sein kann. Wissen, das weder Schmuck, Licht oder Hilfe für den Menschen ist, ist nur eine Last. Wissen ist das größte Wohl, das Gott dem Menschen geben kann. Durch dieses Wohl muss der Mensch sowohl die großen, als auch die kleinen Gedanken, Gefühle und Taten gleichermaßen schätzen. Wegen seines großen Wissens schätzt der Weise gleichermaßen die kleinen wie die großen Dinge. Gott schätzt gleichermaßen die Sonne und den Menschen. Mächtige Kräfte birgt die Sonne, aber Gott misst ihr die gleiche Bedeutung bei wie dem Menschen. Der Mensch sagt: "Was kann ich tun? Worin besteht mein Wert?" Dein Wert besteht in der Verbindung, die du herstellen kannst. Der menschliche Verstand kann eine Verbindung zwischen Sonne und Erde herstellen. Gerade deshalb sind die Menschen auf die Erde gekommen – um diese Verbindung aufzubauen. Wer diese Verbindung nicht herstellen will, gilt unter den Menschen als bedeutsam. Ein solcher Mensch schenkt den großen Sachen in seinem Leben mehr Aufmerksamkeit, als den kleinen. Er vernachlässigt die Kinder, d.h. die kleinen Dinge. Gott stellt diese großen Menschen irgendwo in den Raum, damit sie sich wie Räder drehen. Das Unglück der heutigen Menschen besteht in ihrer Gier nach großen Dingen, nach großen Vorhaben. In einer Sage der Vergangenheit wird die Erde als eine junge schöne Frau dargestellt, die Gott mit einem jungen, schönen Schäfer verheiraten will. Sie aber meinte: "Gott, ich möchte nicht einen solchen Tölpel heiraten. Ich träume von etwas Großem, von großen Welten. Sobald ein Königssohn kommt, werde ich ihn heiraten". Gott erklärte sich einverstanden, ihren Wunsch zu erfüllen und ließ sie einen Königssohn heiraten. Kurz danach gebar sie Söhne und Töchter – alle Verbrecher. Die Erde heiratete einen Königssohn, aber bis heute erleidet sie große Qualen wegen der von ihr geborenen Söhne und Töchter. Sie erkannte ihre Lage und sagte oft zu sich: "Hätte ich doch den Schäfersohn geheiratet! Mit ihm würde ich nicht diese großen Schwierigkeiten haben, wie ich sie heute erleben muss". Nicht nur sie, sondern auch ihre Kinder sagen heute noch: "Unsere Mutter hätte besser daran getan, wenn sie einen einfacheren Menschen ohne Titel und Namen, der dem ganzen Haus Glück bringt, geheiratet hätte". Und wirklich, der Schäfersohn, der das Glück in sich trägt, ist dem Königssohn, der das Unglück mitbringt, vorzuziehen.
Das sind jetzt Gleichnisse, über die man nachdenken muss. Der Mensch verzichtet auf die kleinen Ideen, die Gott in ihn hineingelegt hat, auf Kosten der großen, die er von außen empfängt. Er will König werden, schön, reich und stark sein. Daran ist nichts auszusetzen, aber das Glück besteht nicht aus Schönheit, Kraft und Reichtum. König zu werden – das ist noch kein Glück; schön zu sein – ebenfalls nicht. Wenn die Jungfrau schön ist, wird sie von allen begehrt. Sobald sich alle Menschen gleichzeitig ein und dasselbe wünschen, bringt es Unglück. In solch einem Fall muss sich der schöne Mensch gegen die anderen mit einem Messer verteidigen, um sein Eigentum zu schützen.
Nun, der wesentliche Gedanke dabei ist, dass der Mensch nicht in Widerspruch zu seinen Auffassungen geraten darf und dann meint: "Vergeblich habe ich mein Leben verbracht. So viele Jahre habe ich verloren, ohne etwas zu erreichen". So darf man nicht reden. Ich möchte gern wissen, was ihr darunter versteht, wenn ihr sagt, dass ihr ein Jahr verloren hättet. In einem Jahr dreht sich die Erde einmal um die Sonne. Also, in dieser Zeit hat sie viel Arbeit geleistet; sie hat jedem Menschen mindestens eine Lektion erteilt. Und wenn jemand meint, das Jahr sei vergeblich verstrichen, dann verstehe ich darunter, dass er die Lektion, die ihm erteilt wurde, nicht gelernt hat. Hätte er seine Lektion gelernt, so hätte er den Willen Gottes erfüllt und ein kleines Wohl bekommen. Ein verlorenes Jahr ist ein kleiner Gedanke, eine Verbindung, die der Mensch vernachlässigt hat. Wenn dem so ist, kann er dieses Jahr leicht wiedergewinnen. Wie kann er das erreichen? Indem er diese kleine Verbindung herstellt, d.h. indem er den kleinen Gedanken nicht verwirft. Kleine Gedanken berichtigen Fehler, nicht die großen. Deshalb – wenn ihr einen Fehler gemacht habt, dann wendet euch dem Kleinen zu – dort werdet ihr den Fehler berichtigen; wenn ihr etwas verliert, dann wendet euch an das Kleine – dort werdet ihr es finden. Deshalb findet die Mutter bei ihrem Kind das, was sie verloren hat. Was hat die Mutter verloren? Ihre Liebe. Jede Frau, die ihre Liebe verloren hat, muss Mutter werden, ein Kind gebären, um ihre verlorene Liebe wieder zu finden. Warum werden Kinder geboren? Damit sie die verlorene Liebe ihrer Mutter zurückbringen. Warum kommen dem Menschen die kleinen Gedanken? Damit sie ihm die verlorene Liebe zurückbringen. Der kleine Gedanke ist das schwache Licht, das hier und da in einer stockfinsteren Nacht aufleuchtet. Du gehst verzweifelt durch die dunkle Nacht, hast den Weg verfehlt, aber plötzlich erblickst du irgendwo in der Ferne einen hellen Strahl. Dieser Strahl ruft in dir Freude hervor, weil du den Weg gefunden hast. Eine kleine Kerze in der Finsternis bringt große Freude.
Wir müssen Gott für die kleinen Dinge danken, die den großen dienen. Die kleinen Gedanken, Gefühle und Taten, d.h. die kleinen Kinder, sind kleine Engel, die auf die Erde herunterkommen um die Menschen zu retten. Nehmt zum Beispiel Christus: War er ein großer Mensch? War er ein König? Stand ihm eine Armee zur Verfügung? Man nannte ihn den "jüdischen König", der gekommen war, um das hebräische Volk zu retten, aber die Erzpriester, wie auch die Schriftgelehrten und die Pharisäer, meinten: "Wir wollen diesen Menschen nicht. Schafft ihn weg, er soll gehen! Von ihm kann man nichts erwarten. Er kann kein Messias sein". So ist es – die Menschen haben komische Ideen. Sie erwarten das Wohl von einer Stelle, von wo nichts kommen kann. Ich habe oft beobachtet, was ein junges Mädchen tut, wenn ihr ein junger Bursche gefällt. Sie betrachtet ihn von allen Seiten, schaut seine Hände und Beine an und sagt sich: "Dieser junge Bursche ist stark. Er kann mir eine Stütze im Leben sein". Sie stellt sich etwas vor, was unmöglich ist. Ich schweige, sage ihr nichts, sondern lächele nur und denke: Ganz schön Prügel wirst du von diesem gesunden und kräftigen jungen Mann bekommen. Du wirst die Erste sein, die seine kräftigen, muskulösen Arme ausprobiert. Nach einem Jahr begegne ich derselben jungen Frau, schon verheiratet mit diesem jungen Mann, und sie sagt zu mir: "Ach, wie sehr habe ich mich in diesem Mann getäuscht! Vor der Hochzeit dachte ich, er sei ein guter Mensch, aber was wurde daraus? Er verprügelt mich sehr heftig – er schlägt zu und denkt nicht daran, dass es weh tut. Hätte ich gewusst, dass er so ist, dann hätte ich ihn nicht geheiratet".
Dazu sage ich: Schön ist das Großartige, aber auch schrecklich. Das Kleine, Schwache erlaubt sich nicht dich zu verprügeln, aber das Große, das Starke kann dich dreimal am Tag verprügeln. Und wenn jemand fragt, auf welchem Weg wir Gott dienen können, antworte ich: Die Liebe ist der einzige Weg, auf dem der Mensch Gott richtig dienen kann. Die Liebe ist die einzige göttliche Kraft, die sich mit den geringsten Dingen in der Welt beschäftigt. Außerdem ist sie jene mächtige Kraft, die sich mit den Kleinigkeiten abgibt, die sonst niemand beachtet. In den kleinen Größen liegt die Lösung aller schwierigen Aufgaben, in ihnen befinden sich die Geheimnisse des Lebens. Kommt die Liebe, bringt sie alle verlorenen Dinge mit sich.
Nun also, wenn ihr kräftig sein möchtet, dann knüpft Freundschaft mit den Kleinen und Schwachen; arbeitet danach an der Idee von der Liebe und wendet sie in eurem Leben an. Wenn ihr einem kleinen Kind oder einem Schwachkopf begegnet, verachtet sie nicht. Seht zuerst, was sie benötigen und seid sofort bereit, ihnen zu helfen. Verachtet nicht das Kleine, das Schwache in euch. Kommt ein kleiner Gedanke in euren Verstand oder ein zärtliches Gefühl in euer Herz, gebt ihnen eine Chance, realisiert sie. Sie werden euch zukünftig großes Wohl bringen.
Viele möchten wissen, ob sie einmal glücklich werden oder nicht, wie ihre Kinder die Schule absolvieren werden, ob sie sich im Leben einrichten usw. Sobald sie hören, dass irgendwo ein Wahrsager erschienen ist, gehen sie sofort zu ihm, damit er ihnen etwas vorhersagt. Ob er ihnen etwas sagen wird oder nicht, ist unklar, aber er wird ganz sicher zuerst einmal Geld von ihnen verlangen. Eins müssen alle Menschen wissen: Gott bestimmt das Schicksal der Menschen – kein anderer. Dabei ist das Schicksal der Menschen nichts Verhängnisvolles. Es wird durch ihre Gedanken, Gefühle und Taten bestimmt. Folglich kann keiner einen anderen Menschen von dessen eigenem Schicksal erlösen. Wenn es jemanden gibt, der ihm helfen kann, dann ist es der Betroffene allein. Wie? Indem er die Richtung seiner Gedanken, Gefühle und Taten ändert. Sobald er seine Gedanken, Gefühle und Taten ändert, ändert auch Gott seine Entscheidungen über ihn. Doch der Mensch will, dass die Dinge nach seinen Willen geschehen, ohne irgendein Opfer zu bringen. Nein, wenn ein Mensch seine Gedanken, Gefühle und Taten im richtigen Sinn ändert, ändert auch Gott seine Entscheidungen über ihn. Im Alten Testament steht: "Wegen eurer Gedanken, Gefühlen und Taten verstoße ich euch von meinem Angesicht". Danach sind den Hebräern ihre Fehler bewusst geworden und sie haben ihre Taten bereut. Gott sagte ihnen: "Wenn ihr bereut, wendet euch an mich und ich werde eure Sünden auslöschen". Und sie wandten sich an ihn, und Gott wurde barmherzig und wohlwollend zu ihnen.
Ich frage: Kann man die Sünden eines Menschen vergeben, der niemals bereut? Anders gesagt: Kann man in einer Gaststätte essen, wo das schlechteste Fleisch zubereitet wird? Das kann man nicht. Deshalb sind die guten Gedanken, Gefühle und Taten das Größte, was der Mensch produzieren und von sich geben kann. Zu diesem Zweck muss er absolut reine Gedanken ohne jeglichen Eigennutz in sich pflegen. Er soll eine innere Übung machen, sich vorstellen, dass er all seine Schätze und Gut für Gott opfert, ohne eine Gegenleistung zu erwarten. Oder ein König sollte versuchen, auf seinen Thron zu verzichten und Gott zu preisen. Wie oft wird dieser König diese Entscheidung treffen und sie wieder aufschieben? Letzten Endes kann er dies machen, aber auch nicht. Das ist die Lage, in der sich alle Menschen befinden. Es ist leicht auf die Krone zu verzichten, wenn einem bewusst ist, dass man auch ohne Krone ein König ist. Jeder Mensch ist ein König für sich selbst, doch es gibt einige Menschen, die auch äußerlich die Stellung eines Königs einnehmen. Aber man muss Folgendes beachten: Wo es ein Königtum gibt, dort gibt es auch Verpflichtungen. Die Stelle des Königs ist nicht leicht. Wenn du König eines Volkes bist und ihm den Weg der Wahrheit zeigen kannst, dann bist du eine brennende Kerze für dieses Volk. Solange man keine brennende Kerze für sein Volk ist, sieht einen keiner, doch sobald man eine brennende Kerze geworden ist, wird man von allen gesehen. Selbst der winzigste Fehler, den man begeht, wird von den Menschen bemerkt. Wenn der Mensch eine gute Tat gemacht hat oder wenn er es zu tun beabsichtigt, so wird er sofort auf die Probe gestellt. Mancher will beispielsweise, dass ihn die Menschen lieben und er sie auch. Und sofort kommt auch die Prüfung: verdient er, geliebt zu werden und auch selbst zu lieben? Jeder von uns hat ähnliche Erfahrungen gemacht. Du liebst einen Freund und er liebt dich auch; nach einigen Jahren findet er irgendeinen Fehler an dir und will dich nicht mehr sehen – er sucht sich einen anderen Freund. Warum? Jeder Mensch sucht im Leben etwas, das vollkommen ist.
Das Einzige, von dem sich der Mensch in seinem Leben nicht lösen kann, sind die kleinen Dinge – die Kinder. Die Mutter, zum Beispiel, kann niemals ihre Kinder ablehnen. Lehnt sie ihre Kinder ab, so hört sie auf eine Mutter zu sein – nicht mehr und nicht weniger. Wenn man die Liebe von sich stößt, in welcher Form sie auch erscheinen mag, verzichtet man auf Freude, Glück und Wohl, die man erwerben kann. All diese Dinge verlassen euch, eins nach dem anderen. Jeder, der die Liebe in sich ablehnt, setzt sich größten Qualen aus. Sein Leben wird sinnlos, er wird unzufrieden, traurig und düster. Da meint jemand: "Ich weiß nicht, warum ich so betrübt bin". Du bist betrübt, weil du überreif bist, weil du eines der kleinen Kinder der Liebe abgelehnt hast. Weist du eines ihrer Kinder zurück, sagt sie: "Da du mein Kind ablehnst, kehre ich dir auch den Rücken zu". Die Liebe geht an dir vorbei, sie verlässt dich und du bleibst mit deinen großen Gedanken und Gefühlen zurück. Nach alldem wirst du erzählen, dass du Gott dienst, aber die Menschen lieben dich nicht, verstehen dich nicht usw. Ja, das ist durchaus möglich, aber wenn du wirklich mit dem großen Gesetz Gottes – mit der Liebe – in Einklang bist, dann würde es dich nicht kümmern, ob dich die Leute lieben oder nicht. Wenn du aber das große Gesetz der Liebe verletzt hast, würdest du eine innere Unruhe empfinden, selbst wenn die Menschen dich lieben und ehren.
Damit meine ich jetzt die inneren Zustände und Verhältnisse der Menschen, nicht die äußeren, weil diese auf ganz anderen Regeln beruhen als die inneren. Die Kraft des Menschen besteht in der inneren Einheit, die er in sich herstellen kann und nach der er streben muss. Diese Einheit kann nur durch Anwendung der kleinen Größen im Leben erreicht werden. Ihr zeigt jemandem eine kleine Übung, aber er sagt: "Was gibt mir diese kleine Übung? Was ist dabei, wenn ich meine Hand vorwärts oder seitwärts ausstrecke?" Wenn ein Schriftsteller die Feder in die Hand nimmt und meint, er könne nichts mit dieser kleinen Feder schreiben, wird er wahrlich nichts leisten. Wenn er aber beständig bleibt, wird die Feder ganze Zeilen und Seiten voll schreiben und etwas Schönes schaffen. Doch sobald der Schriftsteller auf einmal etwas Grandioses schaffen will, wird nichts daraus. Seht mal, was die menschliche Zunge in der Welt tut. Das Beste wurde immer mit diesem kleinen Organ gesagt. Die Errettung der Welt hängt auch von diesem kleinen Organ ab. Fängt es an, sich zu bewegen – so klein es auch ist – es schafft Wunder. Die Zunge besänftigt, bändigt und regelt eine ganze Menge von Angelegenheiten. Nicht weniger Arbeit erledigen die Augenlider. Wie ihr seht – zwei kleine Organe, aber ohne sie geht es nicht. Anscheinend tun sie gar nichts, sie öffnen und schließen sich nur. Doch sie sind Beschützer der Augen, sie bewahren sie vor Staub, vor kleinen Fliegen und allen möglichen Verletzungen. Die Lider sind kleine Organe, doch sie sind wichtig. Die Menschen beachten sie nicht, trotzdem – die Lider fühlen sich nicht beleidigt und tun still ihre Arbeit weiter – sie schützen die Augen.
Oft werden die heutigen Menschen vom Ehrgeiz geleitet und meinen, dass sie verschiedene Evangelienverse deuten könnten. Auch die Geistlichen behaupten dasselbe. Doch ich sage: Es gibt verschieden? Deutungsweisen. Nur eine ist richtig. Wenn es um eine einfache Deutung geht, kann das jeder tun, wie jeder es sagen kann, dass zwei mal zwei gleich vier ist. Sowohl der Philosoph als auch das kleine Kind bekommen ein und dasselbe Resultat, aber sie lösen die Aufgabe auf unterschiedliche Weise, und zwar wie folgt: Wenn ihr mit dem Philosophen und dem Kind einen Garten betretet, wird der Philosoph sagen, dass zwei mal zwei gleich vier ist und wird euch vier kleine Äpfel geben. Auch das Kind wird sagen, dass zwei mal zwei gleich vier ist, aber es wird euch vier große und schöne Äpfel geben. Wer sollte eine Antwort auf eure Frage geben: der Philosoph, der die Aufgabe wörtlich löst und euch vier kleine Äpfel gibt, oder das Kind, das euch vier große, schöne Äpfel reicht?
Zwei Menschen streiten sich, wer mehr Liebe in seinem Herzen trägt. Sowohl der erste, als auch der zweite liebt, aber mehr Liebe hat jener, der zusammen mit der Aufgabenlösung "zwei mal zwei ist gleich vier" auch vier große, reife Äpfel überreicht hat. Er rechnet besser als der erste. Also, die Kraft, die Größe des Menschen hängt von der Anwendung des Gottesgesetzes ab. Nach diesem Gesetz soll sich der Mensch zum Nächsten so verhalten wie zu sich selbst. Die vollkommenste Tat aber ist, sich Menschen gegenüber so zu verhalten so wie sich Gott ihnen gegenüber verhält – d.h., sie wie Gott in seiner Gedankenwelt festhält. Im Verstand Gottes nimmt jeder Mensch einen bestimmten Platz ein. Sogar das kleinste Wesen nimmt dort eine hohe Stellung ein. Was es auch von Ihm verlangt, Gott hört seine Bitte. Mancher sagt: "Jeden Tag bete ich zu Gott, doch ich erhalte keine Antwort auf mein Gebet." Warum? Weil dieser Mensch entweder nicht weiß, wie er beten soll, oder die Verbindung zu Gott unterbrochen hat.
Zwölf Bischöfe gingen zusammen in einen Wald um zu beten. Lange beteten sie, aber sie erhielten keine Antwort von Gott. Während dessen ging ein einfacher, frommer Bauer an ihnen vorüber, der mit seinem Esel Holz zum Verkauf fuhr. Sie hielten ihn an und sagten zu ihm: "Hör mal zu, wir bitten dich, zu Gott zu beten, damit Er uns hilft und eine wichtige Angelegenheit regelt". Er betete eifrig zu Gott und die Angelegenheit regelte sich wie gewollt. Also wurde das Gebet des einfachen Menschen angenommen. Danach rühmten sich die Bischöfe, dass ihnen die Arbeit dank ihres Gebets gelungen war. Ein zweites Mal versammelten sie sich, um etwas zu erbeten, doch ihr Gebet wurde wieder nicht erhört. Diesmal aber kam der Holzfäller nicht und ihre Sache blieb unerledigt. Wann immer der Holzfäller zu Gott betete, jedes Mal erhielt er eine Antwort. Sooft die Bischöfe zu Gott beteten, stießen sie auf taube Ohren.
Ich sage: Für den Menschen gibt es nichts Größeres als zu wissen, dass er einen Ehrenplatz in Gottesverstand einnimmt. Ist ihm dies bewusst, wird sein Gebet erhört, sobald er sich mit einer Bitte an Gott wendet. Deshalb müsst ihr alle danach streben, Gott gefällig zu sein und eine hohe Stellung in seinem Verstand einzunehmen. Das muss das Ideal jeder Seele sein und kann nicht mit Weinen und Tränen erreicht werden. Gott braucht keine menschlichen Tränen und Weinen. Wenn ihr euer Ideal erreichen möchtet, dann beschäftigt euch mit den kleinsten Größen, aus denen Gott die Welt geschaffen hat. Dazu müsst ihr die Idee von Gott in euren Seelen heilig halten. Es darf keinen negativen Gedanken über und kein negatives Gefühl zu Gott geben! Alles, was von Gott geschaffen wurde, duldet keine Veränderung, keine Kritik. Was das Göttliche angeht, ob ihr es begreift oder nicht, es ist immer richtig. In Bezug auf das Göttliche wird zuerst gehandelt und erst dann nachgedacht. Du willst Gott dienen, aber du denkst erstmal daran, was mit dir passieren wird, wenn du dich auf diesen Weg begibst. Entscheidest du dich einmal, Gott zu dienen, dann denke nicht mehr darüber nach – ob du wie ein Tier geschlachtet wirst, gehängt oder in Stücken gehackt wirst. Das soll dich nicht kümmern. Alles kann mit dir passieren, aber letzten Endes geschieht ein solches Wunder, wie es nie zuvor gesehen wurde. Wenn sich Christus gefürchtet hätte, wäre er nicht zur Auferstehung gelangt. Er wurde ans Kreuz geschlagen, wo er den größten Beschimpfungen und Spott ausgesetzt war, dass er Gottes Sohn sei und die Welt retten wolle. Man sagte ihm: "Wenn du wirklich Gottes Sohn bist, steige vom Kreuz, beweise es, damit wir dir glauben können." Christus hat all das mit größter Demut und Liebe ertragen.
Und zu seiner letzten Stunde holte er tief Atem und sagte: "Vater, in deine Hände lege ich meinen Geist! Dein Wille geschehe!"[2] Christus hat am Kreuz die größte Schmach erlitten und dafür wurde er erhoben; ihm wurde jede Macht gegeben, sowohl auf Erden, als auch im Himmel. Mit Ihm geschah, was bis dahin niemals geschehen war – er stand von den Toten auf.
Jetzt wollen viele Menschen den göttlichen Weg begehen, aber wenn sie das Leben Christi nicht als Vorbild vor Augen haben, können sie Ihm nicht folgen. Ihr sagt, dass ihr für Gott und für eure Nächsten leben wollt. Ihr könnt sowohl für Gott, als auch für eure Nächsten leben, aber ihr müsst wissen, dass die Beschimpfungen, die Verfolgung und der Spott auf euch zukommen werden. Ihr müsst bereit sein, diese Prüfungen auf euch zu nehmen. Ist das heute so? Man begegnet einem Christusanhänger – er schlägt Lärm, Alarm, weil man ihn beleidigt und ihn damit gekränkt hat. Er sagt: "Ich weiß nicht, was ich noch machen soll. Ich tauge nichts mehr, niemand respektiert mich, niemand will etwas mit mir zu tun haben." Wenn du auf die Erde gekommen bist, damit dich die Menschen achten, so bist du auf dem falschen Weg. Du bist nicht auf die Erde gekommen, damit man dich liebt und achtet, sondern damit du die Liebe Gottes äußerst. Danach wird Gott seine Liebe zu dir zeigen. Auch Christus hat gesagt: "Wie mich mein Vater geliebt hat, so habe auch ich euch geliebt"[3]. Folglich werdet ihr zuerst die Liebe Gottes zu den anderen äußern müssen und dann wird auch Gott seine Liebe zu euch äußern. Wenn ihr die Liebe Gottes nicht begreifen könnt, dann könnt ihr erst recht nicht die Liebe der Menschen verstehen. Zweifel, Unsicherheit und eine Reihe von Irrtümern werden euch heimsuchen, von ihnen werdet ihr ein wenig lernen, doch ihr verliert viel Zeit. Eins muss man beachten: Um eine große Wahrheit zu begreifen müsst ihr immer den kürzesten Weg suchen. Unter "dem kürzesten Weg" verstehe ich den richtigen Weg zum Erfolg. Also, wenn ihr euch retten wollt, so sucht den richtigen Weg.
Ihr sagt: "Stark wollen wir sein". Wollt ihr stark sein, so gebt der Liebe Gottes Gelegenheit sich durch euch zu äußern. Wenn ihr die Liebe Gottes äußert, wird sich auch das Leben äußern. Solange sich das Leben noch nicht geäußert hat, wisst ihr nicht, was aus euch werden kann. Hinsichtlich der Frage, was mit euch werden wird – überlasst den anderen die Antwort. Wenn ihr ein Weizenkorn in die Erde pflanzt, fragt es dann, was mit ihm passieren wird? Es überlässt diese Frage der Sonne. Ein Kind trägt eine Eichel in seiner Hand und fragt sie: "Was kann aus dir werden?" Die Eichel antwortet ihm: "Pflanz mich in den Boden und lass mich in Ruhe, und die Sonne wird sagen, was aus mir werden kann. Komm nach hundert Jahren an diesen Ort zurück und du wirst sehen, was aus mir geworden ist". Nur der liebe Gott weiß, was aus dir werden kann. Du bist ein kleines Körnchen, das Gott in den Boden pflanzt. Nach einiger Zeit wirst du selbst sehen, was aus dir geworden ist. Wenn du dich auf die Menschen verlässt, werden sie dich umhertragen wie ein kleines Kind, von Hand zu Hand, aber aus dir wird nichts werden. Schließlich wird dich Gott durch das kleine Kind in den Boden pflanzen, wo du im nächsten Jahr wachsen, aufblühen und Früchte ansetzen wirst. Wenn das so ist, haltet euch an den kleinen Kindern fest – an den kleinen, tief in euch versteckten Gedanken und Gefühlen, an dem kleinen Wohl, die in eurer Seele aufkeimen. Haltet euch an sie und verachtet sie nicht, wenn ihr Gottes Segen haben wollt. Gott wird euch nicht dafür segnen, was die Menschen von euch denken, sondern für eure Gedanken, Gefühle und Taten. Dabei wird euch Gott nicht für eure großen, gewaltigen Gedanken, Gefühle und Taten segnen, die alle kennen. Er wird euch für jene kleinen, tief in eurer Seele versteckten, verborgenen Gedanken, Gefühle und Taten, die niemand kennt und ahnt, segnen. Gott wird euch für die kleinen, verborgenen, ungeäußerten Körnchen in euch segnen. Für die geäußerten habt ihr euren Lohn schon bekommen.
Nun, wünsche ich euch allen aufzuerstehen, wie Christus auferstanden ist. Bis ihr jedoch zur Auferstehung kommt, wünsche ich euch allen, dass ihr verfolgt, geschmäht und beschimpft werdet wie Christus verfolgt und beschimpft wurde. Ich wünsche euch allen gekreuzigt zu werden und zu sagen: "Mein Vater, wenn du willst, nimm diesen Kelch von mir. Aber nicht mein, sondern dein Wille geschehe"[4]. Ohne Leiden kann die Auferstehung nicht kommen. Christus durchlief Qualen und die Menschen werden sie auch durchlaufen. Wenn die Kinder leiden, wird auch die Mutter leiden. Ich bin nicht für die Leiden, aber einige sind unvermeidlich. Es gibt Dinge, die aufgehoben werden können, und andere, die nicht aufgehoben werden können. Der Tag wird kommen, an dem alle Qualen und Leiden verschwinden werden. Apostel Paulus sagte: "Die heutigen Leiden können nicht verglichen werden mit dem zukünftigen Ruhm für jene, die Gott lieben".
Viele sagen: "Wer weiß, ob das stimmt, wir wollen unser Leben genießen". Wo sind all jene, die ihr Leben nur genießen wollten? Auf den Friedhöfen. Dort werdet ihr Denkmäler von Gebildeten und Einfältigen, von Reichen und Armen, von Jungen und Alten finden, die ihr Leben nach ihrem Verständnis genossen haben. Dorthin sind alle großen Menschen gekommen, die geehrt und geachtet wurden.
Und nun: Zieht die kleinen Kinder groß, die Gott liebt, wenn ihr wollt, dass eure Wege gottgefällig und von Gott begünstigt sind.
Ein Vortrag von dem Meister, gehalten am 14. August. 1932, 5 Uhr morgens.
Die folgenden Zitate entstammen der "Lutherbibel", Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart, 1985.
Aus dem Bulgarischen übersetzt von Stefanka Atanassova
[1]Ps.119,160 [2]Luk 23,46 [3]Joh 15,9 [4]Luk 22,42
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